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Janine Hauthal
Ein „Blick von der Seite“: Die Lecture Performance als Vortragslabor


And maybe theory is biography, presenting it is a lecture,
doing a lecture is performing. Thank you for your attention.
I’d be glad to answer any questions you might have.
(Xavier Le Roy)
[1]

Mit diesem Zitat als Leitspruch veranstaltet Unfriendly Takeover seit Juli 2004 die Reihe „Performing Lectures“ im atelierfrankfurt. Kuratiert von der seit sechs Jahren aktiven Gruppe, die nach dem namensgebenden Prinzip des ‚takeover‘ schon verschiedenste Veranstaltungen an wechselnden Orten, jedoch stets an der Schnittstelle von Kunstgattungen, Veranstaltungs­for­maten oder Szenen durchgeführt hat, entspringt auch die Idee der Lecture Performance-Reihe dem Interesse an gattungs­über­schrei­tenden Arbeiten und Formaten. [2]  Im Rückblick auf mehr als zwanzig Lecture Performances von Künstlern aus den Be­reichen Tanz, Theater, Musik, Performance Art und Bildender Kunst geben die fol­genden Ausführungen einen (wenngleich notwendig vorläufigen) Überblick über das reflexive Poten­tial des im Zwischenbereich von Wissenschaft und Kunst ange­siedel­ten performativen Theo­­rie­­formats. [3] Der Fokus liegt dabei weniger auf dem reflexiven Potential der Lecture Perfor­mance im Hinblick auf die Performance, [4] als vielmehr auf dem ‚Blick von der Seite‘, den die Lecture Performance auf dieje­nige Form der Wissen­schafts­kommunikation erlaubt, die in der Geschichte der Wissenschaft und ihrer Popu­lari­sierung eine zentrale Rolle gespielt hat: den Vortrag.

Die Ankündigung eines Blicks von der Seite geht auf Dieter Merschs Entwurf einer ‚nega­tiven Medientheorie‘ zurück. [5] Mersch zufolge stehen Medien im Verdacht, überall und jeder­zeit präsent zu sein, sich aber dennoch nicht zu zeigen. Vielmehr verweigern sie sich der Analy­sier­barkeit aufgrund ihrer spezifischen Undurchdringlichkeit: „Denn indem ‚Medien‘ etwas zeigen, vorführen oder repräsentieren, verbergen oder verdecken sie zugleich das komplette Feld ihrer Her­kunft und Produktions­bedingungen“ (S. 2). Das genuine Paradox des Medialen liegt in seiner vermittelnden Struktur, denn „[k]eine Vermittlung vermag ihre eigenen […] Materialitäten und Strukturen mitzuvermitteln“ (S. 3). Daraus folgt für Mersch, dass das Mediale nur aus einem „Blickwinkel von der Seite her“ (S. 4) anhand „quer­laufende[r] Performanzen und Unterbrechungen“ (S. 7), an Bruch­stellen und Dys­funktio­nali­täten, untersucht werden kann, deren Vorbild künstlerische Inter­ven­tionen sind.

Künste können Medien sowohl thematisch als auch formal reflektieren. Als paradigmatisches Verfahren für eine formale Reflexion des Medialen in der Kunst führt Mersch die Ana­mor­phose an. Die Anamorphose trägt in ein zentralperspektivisch strukturiertes Bild ein weiteres Bild ein, das jedoch erst aus einem bestimmten Blickwinkel oder mit Hilfe eines Spiegels, von der Seite her also, betrachtet werden kann. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Anamor­phose ist Hans Holbeins Gemälde Die Gesandten (1533), das mit der anamorphotischen Reprä­sentation eines Totenschädels eine Kippfigur ins Bild einträgt, die sich erst aus einem Winkel von 27° zeigt. Die paradoxe Figuralität der Anamorphose besteht darin, dass sie, „indem sie nichts zu zeigen scheint, zugleich auf die Medialität der Bildkonstruktion zeigt“ (S. 11) und sich in der Kippbewegung so das verborgene Mediale der Darstellung offenbart.

2.

Auch das Mediale des Vortrags, das gerade nicht in seiner schriftlichen Fixierung als Manu­skript, sondern in seiner Performance besteht, generiert ‚Präsenzeffekte‘. [6] Anders als die Vor­lesung, die vornehmlich Wissen vermittelt, liegt die Funktion des Vortrags in der Pro­duktion von Evidenz, im ereignishaften Hervorbringen des Wissens. Da sich die Evidenz­produktion in der einmaligen, transitorischen Vortragsperformance zwischen Redner und Zuschauern ereig­net und somit auf der Herstellung einer face to face-Kommunikation basiert, sieht sich die Vortrags­forschung mit dem transi­torischen Charakter ihres Untersuchungs­gegen­standes und dem Problem seiner Verfüg­bar­keit konfrontiert. Die performative Evidenz­produktion des Vortrags entzieht sich ihrer Analysier­barkeit jedoch vor allem auch deshalb, weil die ‚Kunst der Demonstration‘ im wissen­schaftlichen Vortrag zumeist verborgen bleibt. [7]

Warum gerade die Lecture Performance dazu geeignet sein könnte, die performative Medialität des Vortrags durch einen Blick von der Seite zu erhellen, wird deutlich, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, was sie definiert. Bei der Lecture Performance handelt es sich zunächst um eine „inhaltliche, argumentative und belehrende Rede […], die in der Regel von einer Person an mehrere Zuhörer gerichtet wird“ [8]; kurz: um einen Vortrag. Da sich der Vor­trag zugleich aber „mit einer künstlerischen Performance, also einer Darstellung oder Dar­bie­tung überkreuzt“ [9], kann die Lecture Performance genauer als „hybride[r] Vortrag“ [10] definiert werden. Aufgrund des sie kennzeichnenden Spannungsverhältnisses zwischen Vor­trag und Dar­bietung generiert die Lecture Performance im Betrachter eine anamor­photische Kipp­bewegung zwischen den Referenz­bereichen ‚Lecture‘ und ‚Performance‘. Durch die Kreu­zung von Lecture und Performance wird somit das Performative, die Kunst der De­monstra­tion, als Medialität des Vortrags von der Seite her beobachtbar.

3.

Bevor das reflexive Potential der Lecture Performance anhand einer Beispielanalyse kon­kretisiert wird, gilt es zunächst, die verschiedenen Relationsmöglichkeiten von Lecture und Performance, die sich häufig auch im jeweiligen räumlichen Setting der Lecture Perfor­mances manifestieren, zu skizzieren. Es können vorläufig fünf Formen differenziert werden: 1. die Perfor­mance als Lecture, 2. die Parallelisierung, 3. die Montage, 4. die Vermischung sowie 5. die gegenseitige Unterwanderung von Performance und Lecture.

(1) Die Performance als Lecture umfasst Lecture Performances, in denen Künstler die Position von Wissen­schaftlern einnehmen und eine Lecture halten, indem sie die Kon­ven­tionen eines wissen­schaftlichen Vortrags vornehmlich kopieren. Die Imitation ‚naturalisiert‘ das Verhältnis der Künstler zum wissen­schaftlichen Diskurs. Vortrags­forschung findet allein durch die kon­textuelle Verschiebung der Rahmung von der Wissen­schaft zur Kunst statt, die dazu führt, dass Elemente, die beim Hören eines Vortrags im wissen­schaftlichen Kontext viel­leicht nicht wahrgenommen werden – der Körper des Vortra­genden beispielsweise, seine Stimme, die Drama­turgie des Vortrags u.a. – in den Vordergrund treten. Dazu kann zusätzlich beitragen, dass die wissen­schaftliche Autorität eines Künstlers weniger ausgeprägt ist; aller­dings können diese ‚Autoritäts­defizite‘ durchaus kompensiert werden, etwa wenn Künstler über eigene Arbeiten sprechen. Lecture Performances dieser Art wären beispielsweise David Weber-Krebs’ „The Consequence of Infinite Endings“ (17.03.2005, Mousonturm Frankfurt), Stefan Kaegis „V.l.n.r. – Gruppen von Gruppen“ (14.08.2005, atelierfrankfurt) oder Jerôme Bels „The Last Performance – A Lecture“ (02.10.2005, atelierfrankfurt). Mitunter wird der auf­ge­rufene wissen­schaftliche Rahmen durch die Wahl des Gegen­standes und seine Analyse (wie die Kate­gori­sierung von Gruppen­bildern bei Stefan Kaegi) subjekti­viert und so an seine Grenzen geführt. [11] Die Ersetzung des performativen Rahmens durch den der Lecture [12] zeigt sich in der räumlichen Anordnung häufig daran, dass der Vortrag von einem Ort aus erfolgt (vor­zugs­weise einem Tisch mit Mikrophon und Wasserglas), den der Sprecher nicht verlässt.

Arbeiten der zweiten Kategorie der (2) Parallelisierung von Performance und Lecture nutzen das Trans­formations­potential der Lecture Performance, das verschiedene Formate künst­lerischer Arbeiten ineinander übersetzbar macht und deren Überführung in eine Live-Präsen­tation ermöglicht. Die Paralleli­sierung der Referenz­bereiche von Lecture und Performance mani­festiert sich erneut auch räumlich: Aktionen finden zumeist in der Fläche des Raumes statt; auf dessen Rückwand hingegen werden Dokumen­tationen vergan­gener Arbeiten projiziert. Während Jürgen Fritz in seiner Lecture Performance anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Gruppe Black Market (10.11.2005, atelierfrankfurt) stumm agiert und die Tonspur der projizierten Ausschnitte akustisch dominiert, nimmt das britische Perfor­mance­duo Lone Twin in „Walk With Me Walk With Me Will Somebody Please Walk With Me“ (24.03.2006, Städelschule Frankfurt) immer wieder Bezug auf das im Raum­hinter­grund im Schnell­durchlauf erscheinende Film­bild, das sie in regel­mäßigen Abständen anhalten, um das Gezeigte zu kommentieren. Ähnlich wie die Performance als Lecture nutzen und dehnen auch die paralleli­sierenden Lecture Performances das Vortrags­format eher, als dass sie es kommentieren oder brechen.

Neben diesen Lecture Performances gibt es aber auch solche, in denen eine Reflexion des Vortrags­formats durch das Alternieren und Oszillieren von Vortrags- und Performance-Anteilen erfolgt. Daraus resultiert jedoch nicht notwendig eine Durch­dringung der beiden Referenz­bereiche. So stehen bei der dritten Kate­gorie, (3) der Montage von Lecture und Performance, beide Referenz­bereiche einander gegen­über bzw. unter­brechen sich. Die Trennung von Lecture und Performance spiegelt sich in der räum­lichen Anord­nung: Vortrag und Aktionen werden zumeist an unterschied­lichen Orten ausgeführt. Von dieser dritten Form lassen sich (4) Vermischungen von Lecture und Performance als vierte Form sowie (5) die gegen­seitige Unter­wanderung der beiden Referenz­bereiche als fünfte Form unterscheiden. In den Lecture Performances dieser beiden Kategorien erfolgt eine Dramati­sierung des Ver­hält­nisses zum Wissen. Da an Lecture Performances der dritten Kategorie das Verhältnis der beiden Referenz­bereiche zueinander an Über­gängen, Schnitt­stellen und Brüchen besonders deutlich wird, fällt das im Folgenden ausgewählte Analyse­beispiel, die Lecture Performance „Product of Circum­stances“ des zeit­genössischen Choreographen Xavier Le Roy von 1999 (05.05.2005, atelierfrankfurt), in diese Kategorie.

4.

„Product of Circum­stances“ entstand als Auftrags­arbeit: Le Roy kam der von Kuratoren­seite an ihn gestellten Auffor­derung nach, theoretische Zusammen­hänge zwischen Bio­logie und Perfor­mance aufzuzeigen, indem er in einer Lecture Performance seinen Werde­gang vom Dokto­rand der Mikro­biologie zum Tänzer und Choreo­graphen als persönlichen Erfahrungs­bericht präsentierte. Nicht zuletzt aufgrund seiner auto­bio­graphischen Ent­wick­lung reflektiert Le Roy in dieser Lecture Performance die ökono­mischen Zwänge wissenschaft­lichen Arbei­tens, die seinen Glauben an das Ideal wissenschaft­licher Objekti­vität zuneh­mend erschütterten und die, wie er später feststellen muss, auch künstlerisches Arbeiten deter­minieren und zu einem Kreis­lauf aus Antrag­stellung und Produkt­präsentation machen.

Die drei zentralen Gestaltungs­elemente der Lecture Performance lassen sich verschiedenen Berei­chen des Bühnen­raums und wechselnden Licht­stimmungen zuordnen: 1. Die chrono­logische Präsen­tation des Werde­gangs sowie die explizite Infrage­stellung des Wissen­schafts­betriebs erfolgen am Pult durch das neutral gehaltene Vor­lesen ausformu­lierter, zuvor schrift­lich fixierter Rede­passagen, die im speziali­sierten Voka­bular des medizinisch-wissen­schaft­lichen Dis­kurses gehalten sind. 2. Die Erläu­terungen der auf die Rück­wand proji­zierten Tabellen und Dias erfolgt in (scheinbar) freier Rede. Dabei entfernt sich Le Roy vom Pult und steht im unbeleuchteten Bereich vor den Dias. 3. Die Detail­erklä­rungen der Dias und Tabellen sowie die Passagen am Vortrags­pult werden immer wieder von Bewe­gungs­sequenzen in der Mitte des Raumes unterbrochen, die zum einen Le Roys Fort­schritte beim Tanz­unter­richt demonstrieren, zum anderen ohne Rück­sicht auf die Chrono­logie ihrer Ent­stehung Zitate aus eigenen und fremden Choreo­graphien vorstellen.

Betrachtet man die den Referenz­bereich der Lecture kenn­zeichnen­den Passagen am Pult bzw. die Erklä­rungen vor den Dias im Einzel­nen, so sind Unter­schiede zwischen einer wissen­schaft­lichen und einer künst­lerischen Vor­trags­weise kaum auszumachen. Einen ‚Blick von der Seite‘ eröffnen viel­mehr erst die dem Referenz­bereich der Per­for­mance zugehörigen Bewe­gungs­sequenzen, welche die Vortrags­teile regel­mäßig unter­brechen. Zu einer Ver­mischung beider Referenz­bereiche kommt es dabei nur in Aus­nahme­fällen, z.B. wenn das Pult als stützende ‚Stange‘ für eine Ballett­figur fungiert. Über­wiegend stehen Lecture- und Perfor­mance-Teile einander gegenüber. Aus Zuschauer­pers­pektive führt diese Gegen­über­stellung im Verlauf der Lecture Performance dazu, dass die Referenz­bereiche sich gegen­seitig beein­flussen und ihre Grenz­ziehungen durch­lässig werden. In der Folge nähern sich die wissen­schaft­lichen Evidenz­techniken der proji­zierten Dias und Tabellen sowie die künst­lerischen Bewegungs­demonstra­tionen einander an.

So sind die Bewegungs­sequenzen zwar einer­seits in die auto­bio­gra­fische Argu­mentation des Vor­trags eingebunden (etwa wenn Le Roy seine Körper­propor­tionen demonstriert und als Grund für das anfängliche Aus­bleiben von Tanz­engage­ments anführt). An anderer Stelle fungieren die Bewegungs­sequenzen hingegen als Störungen und Unter­brechungen des Vortrags und seiner Evidenz­produktion, etwa wenn die Bedeutung bzw. der ‚kommunikative Nutzen‘ der Zitate aus eigenen und fremden Choreo­graphien unkommentiert bleibt. Darüber hinaus kann die Evidenz­produktion der Bewegungs­sequenzen im Vergleich zu den Vortrags­teilen der Lecture Performance sogar über­legen wirken und dann die Evidenz­produktion der Rede in Frage stellen: So authen­tifizieren die Bewegungs­sequenzen Le Roy als Tänzer und Choreo­graph, indem sie seine professionelle Körper­beherrschung und -ausbildung augen­fällig machen. Der Evidenz­charakter der wissen­schaft­lichen Beweis­führung mit Dias von Experi­menten und Tabellen hingegen erweist sich als schwächer, wenn – wie verschiedent­lich über­liefert wurde – Zuschauer in der sich an die Performance anschließenden Frage­runde die ‚Faktizität‘ seiner mikro­biolo­gischen Studien in Zweifel ziehen. [13]

Das Verhältnis von Lecture und Performance in „Product of Circum­stances“ ist folglich ambivalent: Die Techniken der wissen­schaftlichen und tän­zerischen Demonstra­tion stabili­sieren und destabi­lisieren sich zugleich. Indem Le Roy seinen Körper einsetzt, zeigt sich dessen zen­trale Stellung in der Vortrags­performance, zugleich aber dessen Potential, die Evidenz­produktion der Rede zu stören und zu unterlaufen. Umgekehrt aber wird die Authenti­zität des Körpers durch seine Ein­bindung in die Evidenz­produktion des Vortrags unter­graben: Wenn nämlich Le Roy in den Bewegungs­sequenzen seine Tanz­fortschritte demonstriert, so inte­griert dies zugleich ein fiktio­nales Element in die Performance, da der tänzerisch voll aus­gebil­dete Körper auch Phasen von Le Roys Entwick­lung zum Tänzer beglaubigt, in denen sein Körper kaum bzw. nur durch Basket­ball trainiert war. So heißt es etwa im Skript zur Perfor­mance: „My hands don’t get closer than 20 cm from the floor, like it was in 1987.[14] Die Veränder­lichkeit des Körpers stellt diesen mit den ebenfalls in ihrer Authen­tizität nicht über­prüf­baren visuellen Doku­menten der Dias und Tabellen gleich. Die Bewegungs­zitate Le Roys verlieren so ihren performativen Status und werden zu einer Lecture – zum ‚Vortrag‘ einer Bewegung. [15] An ihnen zeigt sich somit, wie der Körper des Vortragenden ent­scheidend an der Produktion von Evidenz mitwirkt, zugleich aber in dieser trans­parenten, funktionalen Rolle als Kommuni­kations­medium nicht aufgeht. [16]

5.

Die Ambiva­lenzen, die „Product of Circum­stances“ auf struktureller Ebene charakterisieren und die die Vortrags­teile in eine Performance bzw. die Bewegungs­demonstra­tionen in eine Lecture trans­formieren, werden auch im Zuge einer Fokus­sierung der Ent­wicklungs­geschichte dieser Lecture Performance auf das Spannungs­verhältnis von Lecture und Performance deutlich. Indem Le Roy seine Arbeit seit 1999 wieder­holt präsentiert hat, wurde die Lecture mehr und mehr zur Auffüh­rung im Sinne einer Aktuali­sierung eines vorgängig schriftlich fixierten Skriptes. Zuschauer können dies an dem wachsenden Zeit­raum zwischen dem Ende der referierten Bio­graphie (1998) und dem Zeit­punkt der Auf­führung erkennen, da Le Roy die Lecture Performance nicht ‚weiter‘ geschrieben hat, sondern unverändert ließ.

Das Paradox dieser Entwicklung gipfelt darin, dass Le Roy das Skript seiner Performance ver­öffent­licht und ihm kursiv gedruckte, instruktive Passagen hinzufügt, die wie die Dida­skalien eines Theater­textes nicht gesprochen werden sollen. Weist allein die Existenz dieses instruk­tiven Textes darauf hin, dass es sich im Falle seiner Aktualisierung um die Perfor­mance einer Lecture, um die Aufführung eines Vortrags, handelt, so lässt sich an diesen Instruk­tionen auch das konstruktive Element festmachen, dass jeder Wissen­schafts­kommuni­kation eignet. Interessanter­weise schreiben diese Instruktionen nämliche gerade das fest, was Vortragstexte in der Regel nicht schriftlich fixieren: die Vortragsperformance [17] – und doku­mentieren zu­gleich die Unmög­lichkeit dieses Unter­fangens. So geraten die Referenz­bereiche von Lecture und Performance in der schrift­lichen Fixierung in ein solches Spannungs­verhält­nis, dass sich eine Defigu­ration von Evidenz ereignet. Vielleicht erklärt dies auch, warum eine Kopie der Performance durch andere zwar bislang aussteht, wohl aber auf der Grundlage des Skripts bereits zwei Lecture Performances, Petra Sabischs „Kontaminiert“ (27.01.2005, atelier­frankfurt) und Vera Knolles „I didn’t mean do hurt you“ (05.01.2006, atelier­frankfurt) sich (zum Teil kritisch) mit Le Roys Arbeit auseinander­setzen.

6.

Wenngleich die Aufmerksamkeit dieses Beitrag vor allem den reflexiven Möglichkeiten der Lecture Performance im Hinblick auf den Vortrag als Format des ereignishaften Hervor­bringens von Wissen und dessen Kommunikation galt, darf nicht vergessen werden, dass erst die Vielzahl von Arbeiten, die im Anschluß an oder als Antwort auf Xavier Le Roys „Product of Circumstances“ das Format der Lecture Performance aufgriffen und von denen die 20 von Unfriendly Takeover im Rahmen seiner Reihe gezeigten nur einen Teil ausmachen, das Inte­resse an diesem Genre generierte. Wenn man von einer (wissen­schafts-)­theoretischen Pers­­pek­tive Abstand nimmt und die Lecture Performance aus der Sicht von Produzenten und Rezi­­­pienten zu betrachten versucht, so sind möglicherweise andere Aspekte für die Attrakti­vität des Formats relevant. Neben der Möglichkeit, die ei­gene Arbeit und mit ihr die eigene Bio­­graphie zu reflektieren, könnte ein Aspekt etwa darin liegen, dass bei Lecture Per­for­man­ces auch das Sich-zur-Diskussion-Stellen Teil der Aufführung ist. Aufgrund der zum Vor­trag ge­­hörenden Diskussion im An­schluß an die Präsentation stellen Lecture Per­for­mances eine Kom­­muni­kationssituation her, die die Grenze zwischen Zuschauer und Per­for­mer stärker mini­­miert als beispielsweise die im Anschluß an Theaterproduktionen veran­stal­te­ten Auf­füh­rungs­gespräche, in denen Produzenten und Rezipienten in dieser starren Rollen­verteilung auf­ein­ander treffen. Zudem zeichnet sich der in Lecture Performances aufgerufene Vortragsrahmen dadurch aus, dass sich ein Vortrag im Unterschied zur Vorlesung eher an ein bereits über (Vor-)Wissen verfügendes Publikum wendet. Das impli­zite Ideal der Lecture Per­for­mance einer Kommunikation zwischen Performer und Zuschauer ‚auf Augenhöhe’, for­muliert auch Le Roy am Ende seiner Lecture Performance, wenn es in der ‚Regieanweisung’ im Anschluß an das als Motto vorangestellte Zitat heißt: „I go to the audience to answer their questions and try to change my position as relative to the audience, so that I am not in front of them but within them.” [18]



[1] Xavier Le Roy: “Product of Circumstances”, S. 13 (zitiert nach dem unter  www.unfriendly-takeover.de/down­loads/f14_leroy_text.pdf veröffentlichten Manuskript der Lecture Performance [24.09.2006]).

[2] Das Format der Reihe ähnelt einer Versuchsanordnung, da das Sammeln von Fallbeispielen in einer Reihe (auch beim Sammeln handelt es sich um ein wissensgenerierendes Verfahren, wie Anke te Heesen und Emma C. Spary in ihrem Aufsatz „Sammeln als Wissen“ [in: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissen­schaft­liche Bedeutung. Hrsg. v. Anke te Heesen und Emma C. Spary. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001. S. 7-21] zeigen) implizit eine Definition der Lecture Performance generiert. Wissenschaftlichen Verfahren gleich­falls nicht unähnlich, wird die Reihe durch im Internet zugängliche und herunter ladbare Videomitschnitte und Texte dokumentiert sowie von einem eigenen Theorie-Forum begleitet.

[3] In diesem Beitrag ist von Wissenschaft und Kunst die Rede (und nicht von Theorie und Praxis u.ä.), um die in Lec­ture Performances entworfenen Verhältnisse dieser beiden Bereiche in ihrer Eigenschaft als Systeme mit sich unterscheidenden institutionellen Rahmungen, kommunikativen Verfahren und analytischen Methoden in den Blick zu bekommen.

[4] Eine Lecture Performance, die hingegen gerade dies zu ihrem Thema macht, ist die „Enzyklopädie der Performancekunst“ der Wagner-Feigl-Festspiele. Einen ähnlich komplementären theoretischen Ansatz verfolgt Wolf-Dieter Ernst („Die Lecture-Performance als dichte Beschreibung“ in: TheorieTheaterPraxis. Hrsg. v.  Hajo Kur­zen­berger und Annemarie Matzke. Berlin: Theater der Zeit, o.J. [2003]. S. 192-201).

[5] Vgl. Dieter Mersch: „Mediale Paradoxa. Zum Verhältnis von Kunst und Medien. Einleitung in eine negative Me­dien­­theorie“, Vortrag im Rahmen der Sektion „(Inter-)Medialität – Theatralität – Performativität“ am Giesse­ner Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK), Justus-Liebig-Universität Giessen, am 13.07.2006. Die fol­genden Zitate im Text entstammen dem in Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz unter www.sicetnon.org/content/perform/Mersch_Medienphilosophie_sw.pdf (24.09.2006) veröffentlichten Vor­trags­manu­skript.

[6] Vgl. Sibylle Peters: „‘our talk gets its meaning from the rest of our proceedings’: Anlagen zu einer Theorie des Vortrags als Performance“, Vortrag im Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), JLU Giessen, am 30.08.2006.

[7] Dies thematisiert die Lecture Performance „The Art of Demonstration“ von Sibylle Peters (supported by Matthias Anton; 16.06.2005, atelierfrankfurt).

[8] Ernst: „Die Lecture-Performance“, S. 192.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Vgl. die parawissen­schaftlichen Inhalte in den Lecture Performances von Felix Kubin, der in „Paralektronoia. Über Geister und Elektrizität“ (08.12.2005, atelierfrankfurt) Verbindungen von Wissenschaft, Okkultismus und Elektronik aufzeigt, und Adrian Williams, die in „man made me“ (17.02.2005, atelierfrankfurt) im Ein­horn­kostüm auftritt, oder die dezidiert autobiographische Perspektive bei Daniel Belasco Rogers, Petra Sabisch, Xavier Le Roy, Jérôme Bel oder Martin Nachbar.

[12] Eine umgekehrte Vorgehensweise wählt Stefan Kaegi in „Peter Heller spricht“ (1997): In dieser ‚Performance Lecture‘ wird der Vortrag eines Geflügel­züchters über Geflügelzucht, da er auf einer Theater­bühne stattfindet, als Performance gerahmt. Kaegi spricht in diesem Zusammen­hang auch von einem ‚theatralen Ready Made‘.

[13] Vgl. die Beschreibung Gabriele Brandstetters („Geschichte(n) Erzählen im Performance/­Theater der neun­ziger Jahre“, in: Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Hrsg. v. Erika Fischer-Lichte et al. Berlin: Theater der Zeit, 1999. S. 27-42; hier: 33): „Die Dias an der Wand wirken plötzlich wie abstrakte Gemälde. Die präzise dar­gelegten Zähl­verfahren zur Zell-Veränderung des Krebs­gewebes – als ‚tissue‘ – erscheinen auf einmal wie eine ver-rückte selbst­referentielle Taxo­nomie.“

[14] Le Roy: “Product”, S. 2 (Hervorhebung J.H.). Auch Brandstetter („Geschichte(n) Erzählen“, S. 34) geht auf Le Roys (männlichen) Körper und seinen Kontrast zu den an Brustkrebs erkrankten weiblichen Körpern, die die Dias verbergen, ein. Sie liest diesen allerdings als das Reale, das „nicht Veröffentlichte, nicht zu Ver­öffent­lichende“, das sich nicht in das System der biographischen Geschichte bzw. die zitierten medizinischen, (tanz)­päda­gogischen, anthro­polo­gischen Diskurse integrieren lässt.

[15] Die Gleichstellung macht außerdem deutlich, dass Evidenz nicht aus der Authentizität von Doku­menten resultiert. Vgl. auch die Lecture Performances von Walid Raad und der Atlas Group („The Loudest Muttering is Over“, 2003; „Civilizationally, we do not dig holes to bury ourselves“, 2003) oder die Arbeiten Rabih Mroués.

[16] Diese Intrans­parenz betrifft nicht allein den Körper, sondern weitere Parameter der Evidenz­produktion, etwa die Stimme, die das Verhältnis des Subjekts zur Rede anzeigt. Vgl. Kubin und die Wagner-Feigl-Festspiele, die in ihren Lecture Performances auf die genuine Ambiguität des Sprecher­subjekts in der Vortrags­rede anspielen, wenn sie bei Zitaten ein Sample mit der Original­stimme des Autors einspielen.

[17] Le Roy („Product“, S. 1) macht Angaben zur Struktur des Raumes, zur Beleuchtung, zur technischen Aus­stattung sowie zu den Requisiten und gibt Anweisungen zur ‚wissenschaftlichen‘ Art des Textvortrags: „The text […]should be read as clearly as possible. The performance should [...] present each element as a matter of fact, trying not to emphasize any of the aspects. Try to perform without irony, sarcasm, romanticism, or any affect that could transform the facts. The performance of each element should stay as close as possible to fact.

[18] Le Roy „Product“, S. 13.